Hütten oder Speere
Die 11. Klasse der Waldorfschule Markgräferland Müllheim spielte
„The Island “ frei nach „Herr der Fliegen“ von William Golding
Im ersten Moment scheint alles in Ordnung auf dieser Insel, Ferienstimmung – und doch stimmt da etwas nicht. Schnell wird klar, diese Jugendlichen kennen sich nicht, sind nicht freiwillig hier. Das Flugzeug, mit dem ihre Eltern sie aus dem Kriegsgeschehen evakuiert haben, ist auf dieser paradiesisch anmutenden Insel abgestürzt. Nun sind sie auf sich alleine gestellt. William Golding griff 1954, neun Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, in seinem bekanntesten Roman „Herr der Fliegen“ zu dieser Ausgangssituation um die existenzielle Fragen nach den Grenzen der Freiheit, nach der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nach Macht und Einfluss aufzugreifen und zu durchleuchten. Auf der Insel treffen sich Einzelne, ein Chor hat sich bereits zusammengefunden, der singend einmarschiert, dem vermeintlichen Trompetensignal folgend. Der Ton entstammt einer großen Muschel, in die einer der Jugendlichen bläst um eventuelle andere auf der Insel herbeizurufen. Bei der Suche nach dem Miteinander auf der Insel orientieren sich die Jugendlichen an Formen, die sie kennen - Versammlungen abhalten, Abstimmungen durchführen, Anführer wählen. Gemeinsam erkunden sie die Insel voll Freude, nennen sie Schatzinsel, Abenteuer, Koralleninsel – Träume von glücklicher Freiheit ergreifen sie mit dem Blick auf das Blau des Himmels und des Meeres, auf die Palmen. „Es gibt keinen Grund zu kämpfen, die Insel gehört uns allen“, sagt einer. Noch gibt es nur kleine Risse, Geplänkel um das erste Wort, um die Hierarchie in der Gruppe. Die Muschel wird zum Symbol der Einheit, zum kostbarsten Wertgegenstand, der das friedliche Miteinander repräsentiert. Doch das ändert sich schnell: Die Gemeinschaft zerbricht in zwei Gruppen, die Jäger, die sich Speere herstellen und den Schweinen nachstellen, die anderen, die ein Lager und Hütten bauen. Der Kampf um die Macht, um die Führerschaft, wird angeheizt durch die Angst vor dem „Monstertier“, das jemand gesehen haben will. Die Lieder werden abgelöst durch gemeinsames Skandieren von Kampfesrufen, der geordnete Marsch ersetzt durch ritualisierte Tänze, die in tranceartige Blutrausch bis zum Mord führen. Die aus der Angst vor dem Unbekannten resultierende Brutalisierung wird von den Schauspielern mit großer Intensität vorgeführt. Nach dem Erlegen eines Schweines kommt es zur anschließenden Bluttaufe, gegen die Angst im Dunkeln wird angeschrien oder sich zusammengekuschelt, die Angst wird vertrieben durch den Genuss an der Angst von Schwächeren. Mit klarem Blick für die inneren Abgründe der Figuren und der unvermeidbaren Eskalation machen die SchülerInnen zusammen mit Jens Grühn, dem Regisseur, Abläufe und Verhaltensmuster nachvollziehbar: Die Rangordnungen sind deutlich, das Verhalten studiert. Die Bühne bietet durch die Anordnung im Saal mehrere Spielorte, das macht die Insel groß. Das Stück und seine Umsetzung regen zum Nachdenken an. Die Jugendlichen arbeiten eindringlich heraus, wie die Aggression gegen Fremdes aufbricht, wie ein Einzelner ausgegrenzt wird, weil er nicht wie erwartet mitspielt, wie Unsicherheit und Angst den Ruf nach einem Führer verstärken, wie Gesprächsbereitschaft unter roher Gewalt erstickt. Das Unbewusste, das Monster in jedem, bricht sich Bahn. Ein weiterer Mord geschieht, an einem, der das Gespräch sucht, gleichzeitig wird die Muschel zerstört. Um seine Führerposition endgültig zu festigen eröffnet der Anführer der Jäger die Jagd auf seinen Gegenspieler, in den der Herr der Fliegen, der Beelzebub, eingefahren sei. In diesem Moment erscheint ein Marineoffizier in makellosem Weiß wie ein deus ex machina auf der Insel – die Rauchzeichen haben ein Schiff angelockt. Mit einem Blick erfasst er die prekäre Lage - „Es war ein Spiel “, sagt er keinen Widerspruch duldend. Zunächst erleichtert über diese Rettung beschleicht das Publikum dann aber doch ein ungutes Gefühl, als die Jugendlichen bereitwillig wieder in militärischer Linie der alten Autorität mit einem Marsch für heimkehrende Soldaten folgen, bis auf einen der wie gebrochen zurück bleibt - war es, ist es wirklich ein Spiel? Die Zuschauer bedankten sich mit großem Applaus für den aufwühlenden lebendigen Abend.
Dorothea Koelbing